„Und kommen Sie mit Ihrem Kind nie wieder…

…wenn ich Vertretung mache.“ Wer sowas sagt? Man mag es kaum glauben: Eduardo N., seines Zeichens Kinderarzt in Gelsenkirchen und Vertretungsarzt unserer Kinderärztin.

Doch von Anfang an: Wir haben ab Mittwoch einen Kurzzeitpflegeaufenthalt für Noah bekommen. Die Plätze hierfür sind rar, man kann Wünsche äußern, aber eine Garantie für bestimmte Termine gibt es nicht. Und vergeben werden die Termine mindestens ein halbes Jahr im voraus.

Kinder die regelmäßig Medikamente benötigen, müssen diese selbstverständlich auch in der Kurzzeitpflege einnehmen. Und wer mit Pflegeeinrichtungen mal in Kontakt gekommen ist weiss: Ohne ärztliche Anweisung geht da nichts. Das ist auch bei Kindern nicht anders. Die relativ einfache Regel lautet:

Für Medikamente wird eine ärztliche Verordnung benötigt, aus der Medikament und die Art der Einnahme ersichtlich sind. Die Bescheinigung darf bei Beginn des Aufenthalts nicht älter als drei Tage sein.

Eigentlich eine sinnvolle Regelung, die auch meistens kein Problem darstellt. Unsere Kinderärztin stellt diese jederzeit auf den von der Pflegeinrichtung bereitgestellten Formularen aus. Im Wesentlichen gilt es eine Unterschrift zu leisten, wir füllen das Formular bereits vorher aus.

Heute wollten wir dann die Bescheinigung für Mittwoch abholen, also frühestmöglich. Leider mussten wir dabei feststellen, dass unsere Kinderärztin im Urlaub ist. Der Anrufbeantworter hat uns aber über die organisierte Vertretung informiert: Eduardo N.. Wir haben uns angewöhnt in allen solchen Fällen zunächst vorab telefonisch unser Anliegen zu schildern. Verbunden diesmal mit dem Hinweis, dass wir die Kopie einer Verordnung von letzter Woche besitzen, die unsere Kinderärztin anlässlich von Noahs Klassenfahrt ausgestellt. Also quasi genau das was wir benötigen, auf einem anderen Papier und eine Woche zu alt.

Herr N. hat über seine Angestellte ausrichten lassen, er würde diese Bescheinigung nicht ausstellen, er wäre ja nur der Vertretungsarzt. Darauf hingewiesen, dass er dies in der Vergangenheit (ich würde vermuten vor ca. 2 Jahren) bereits einmal getan habe, liess er mitteilen, das könnte wohl sein, aber seit einer Gesetzesänderung zum 01.01. sei ihm das nicht mehr erlaubt. Diese Aussage hat mich dann doch etwas verwundert, wofür ist ein Vertretungsarzt denn dann da, wenn nicht zur Wahrnehmung des Arztaufgaben, wenn dieser im Urlaub ist? Aber gut, man weiss ja nie.

Also zunächst die Barmer GEK angerufen. Ergebnis: keins. Es sei zwar seine Aufgabe, wenn er das nicht mache, hätte man als Krankenkasse aber keine Handhabe. Ok.

Nächste Station: Kassenärztliche Vereinigung Westfalen Lippe, Geschäftsstelle Gelsenkirchen. Immerhin die Stelle, bei der man sich über die Arbeit von Ärzten beschweren können soll. Geht tatsächlich, aber nur schriftlich. Für die Lösung des Problems sei eine Kontaktaufnahme mit dem Patiententelefon der Ärztekammer die beste Lösung. Eine geänderte Rechtslage sei nicht bekannt.

Nach ungefähr 60 (!) Versuchen jemanden zu erreichen (Es gibt keine Warteschlange, wenn alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sprechen, wird man auf das Kontaktformular im Internet verwiesen und aufgelegt), konnte ich dort mein Problem schildern. Mir wurde ein Rückruf zugesagt. Ungefähr eine halbe Stunde später kam dieser dann auch, wir haben das Problem diskutiert und herausgefunden, dass der Vertretungsarzt die medizinische Versorgung sicherstellen soll und dass hierzu wohl auch das Ausstellen der begehrten Bescheinigung gehöre. Die Rechtslage habe sich nach dortiger Kenntnis auch nicht geändert. Machen könne man aber letztendlich nichts, ein Weisungsrecht bestünde nicht. Die Vorschläge, das Kind doch erst Donnerstag in die Kurzzeitpflege zu geben, wenn die Kinderärztin wieder erreichbar sei oder zu versuchen diese in ihrem Urlaub zu erreichen und zur Unterschrift zu bewegen sind wohl eher der verzweifelte Versuch das Versagen des Systems zu kaschieren als ernstgemeinte Lösungsvorschläge.

Letztendlich sind wir dann doch zu Herrn N. in die Praxis gefahren, der sich zunächst immer noch weigerte, die Verordnung von letzter Woche fortzuschreiben. Wohl gemerkt: Wir wollten kein Rezept über Medikamente, die haben wir alle in ausreichender Menge im Vorfeld besorgt. Nach Hinweis auf das Gespräch mit KV und Ärztekammer und die dort unbekannte Änderung gesetzlicher Regelungen haben wir dann eine neue Variante zu hören bekommen: Wenn er sowas ausstelle, würde er Ärger mit der Krankenkasse bekommen, von dort würde Druck ausgeübt.

Nach weiterer Diskussion, die im Übrigen auf seinen Wunsch hin auf dem Flur seiner Praxis stattfand, hat er dann unter lautem Geschimpfe doch unterschrieben. Verbunden eben mit „Und kommen Sie mit Ihrem Kind nie wieder, wenn ich Vertretung mache.“

Ich werde die Kassenärztliche Vereinigung und Krankenkasse um Stellungnahme bitten und erneut berichten.

Inklusion – der Gelsenkirchener Weg

… war der Titel einer Veranstaltung, die ich gestern besucht habe. Organisiert von der Stadtschulpflegschaft, als Vortragende Herr Südholt als zuständiger Mitarbeiter des Schulamts und Dr. Beck als zuständiger Dezernent.

Nach einem durchaus informativen Vortrag konnte dann das Publikum Fragen stellen. Und eins ist mir dabei wieder sehr deutlich geworden: Schulische Inklusion wird auf absehbare Zeit nicht funktionieren.

Das liegt nicht so sehr an „äusseren Umständen“ wie fehlenden Aufzügen oder nicht gebauten Integrationsräumen. Das ist ärgerlich, aber nicht der Kern des Problems.  Woran es wirklich hängt ist der gesellschaftliche Wille Inklusion zu betreiben.

Ich will nicht verhehlen: Ich halte unser Förderschulsystem für gut und erhaltenswert. Es wird gute Arbeit geleistet und Kinder mit Förderbedarf werden auch gut gefördert. Es wird aus meiner Sicht immer Kinder geben, die nicht sinnvoll im Gemeinsamen Lernen unterrichtet werden können. Das ist eine Realität, der wir uns stellen müssen. Aber es gehört auch zur Realität, dass es eben viele Kinder gibt, die problemlos im Gemeinsamen Lernen beschult werden könnten, wenn wir es denn wollten: Ungefähr die Hälfte der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf sind dem Schwerpunkt „Lernen“ zugeordnet (http://www.tu-berlin.de/fileadmin/i49/dokumente/demmer-dieckmann/KMK.pdf). Nur Österreich kennt diesen Schwerpunkt auch, alle anderen europäischen Länder unterrichten dies schon immer inklusiv.

Drei Beiträge in der Diskussion waren charakteristisch für das eigentliche Problem:

  1. Herr Südholt hat aus seiner Zeit als Schulleiter einer Förderschule von vielen Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern berichtet, die alle in etwa gleich abliefen. „XXX, wie gehts Dir?“ „In der Schule ists gut Herr Südholt. Hier muss ich nicht den ganzen Tag Sachen machen die ich nicht kann sondern kann auch mal an die Werkbank/… gehen“ „Und ausserhalb der Schule?“ „Nicht so gut. Ich darf im Sportverein nicht mitmachen, werd nicht zu Kindergeburtstagen eingeladen usw.“.
  2. Eine Mutter hat vorgetragen, dass man mehr auf die Kinder hören sollte, wenn es um die Frage „Gemeinsames Lernen oder nicht?“ geht. Kinder mit Förderbedarf würden bei inklusiver Beschulung von den anderen gehänselt, weil sie weniger Leistung erbringen würden als die Regelkinder. Das sei ein Kontra für das Gemeiname Lernen und das müsse man seinem Kind mit Förderbedarf nicht antun.
  3. Ein Lehrer eines Gymnasiums erklärte, dass er dauerhafte Doppelbesetzung mit einem Sonderpädagogen für inklusiven Unterricht benötige, er könne ja nicht zwei verschiedene Leistungsstände in einer Klasse unterrichten.

Warum sind diese drei Beiträge so bemerkenswert? Weil sie am Kern des Problems kratzen. Die Gesellschaft als Ganzes muss sich auf Inklusion einlassen. Inklusion endet nicht am Ein- oder Ausgang der Schule. Und es spielt am Ende nur eine begrenzte Rolle, ob jemand an einer Förderschule oder im Gemeinsamen Lernen unterrichtet wurde, wenn er gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben kann. Das Stigma „Förderschule“, „Brettergymnasium“, „Doofenschule“ ist nur ein Symptom dafür, dass sich weite Teile der Gesellschaft nicht damit befassen wollen, dass Diversität nomal ist.

Sowohl die von Herrn Südholt als auch die von der Mutter beschriebene Situation entsteht nicht von selbst. Ja, Kinder sind manchmal fies, das sind sie und waren sie immer: Der eine ist doof, weil er schlechte Noten schreibt, die nächste ist eine Streberin, weil sie nur gute Noten schreibt, der dritte hat ne schiefe Nase und die vierte hat das falsche Handy. Das hat nichts mit dem Gemeinsamen Lernen zu tun. Aber wenn es in Mobbing ausartet, haben die Eltern versagt. Sie haben versagt darin, ihrem Kind beizubringen Rücksicht zu nehmen. Es sind nicht die Kinder, die mit zwei Jahren auf dem Spielplatz den Behinderten ausgrenzen, es sind die Eltern, die sagen „Geh da mal lieber nicht hin“. Und es sind nicht die Kinder, die in der Grundschule den Leistungsdruck produzieren, es sind die Eltern. Es sind die Eltern, die Ihrem Kind vermitteln „die, die eigentlich auf die Förderschule gehören bremsen Dich aus und nehmen Dir die Chancen“. Vielleicht wird das nicht immer so explizit ausgedrückt, in der Tendenz ist es so.

Und eigentlich ist auch die Aussage des Lehrers (und die seiner Kollegin, man müsse die eigenen Schülerinnen und Schüler ja auf das Abitur vorbereiten) das gleiche nur anders verpackt: Inklusion führt zur Vernachlässigung der Regelkinder. Dabei ist unterschiedliche Niveaus zu unterrichten an Gesamtschulen Täglichbrot, es geht also offensichtlich, wenn man denn will.

Es ist das, was wir als Erwachsene unseren Kindern vorleben, was Inklusion unmöglich macht. Wie berichtet waren wir ja in den Ferien im Urlaub in Dänemark. Da gab es einen gewaltigen Unterschied: Wir sind mit Noah regelmässig in den Supermarkt einkaufen gegangen, die Situation war neu und aufregend für ihn. Wie das dann so ist, hat er dabei auch lautiert, deutlich hörbar. Und trotzdem hat niemand schräg geguckt, niemand hat sein Kind weggezogen, oder einen grossen Bogen gemacht. Bei einem Besuch in einem Eisenzeit-Museum, in dem man sich dann auch passend verkleiden konnte, hat sich der Mitarbeiter wirklich bemüht, Noah in die Auswahl seiner Bekleidung einzubeziehen. Andersartigkeit wurde ganz offensichtlich akzeptiert. Von allen. Nach der Rückkehr wurde ich im Rewe (von den Kunden) leider wieder auf den Boden der Tatsachen geholt.

Und das Fazit? Ein Gesetz reicht nicht. Bei weitem nicht. Solange wir nicht aufhören alles zu sortieren und in Schubkästen zu Verpacken, werden wir keine Inklusion erreichen. Weder in der Schule, noch in der Gesellschaft.

Es geht los…

Ab heute werde ich in unregelmässigen Abständen bloggen, was sonst keiner glaubt: Wie das Leben mit einem frühkindlichen Autisten WIRKLICH ist.

Wer wir sind: Eine „ganz normale“ Familie: Jan (38), Vanessa (33) und zwei Kinder (Noah, 8 und Laura, 13), Hund. Ich bin vollzeitberufstätig als Ingenieur, meine Frau studiert und unsere Tochter besucht eine Gesamtschule. So weit, so normal. Unser Sohn jedoch ist frühkindlicher Autist. Er ist körperlich normal entwickelt, kann aber nicht sprechen, ist mehrere Jahre entwicklungsverzögert und inkontinent. Er besucht eine Förderschule für geistige Entwicklung.

Worum es gehen soll: Alle Welt redet von Inklusion. Von Gleichstellung, nicht nur in der Schule, sondern überall. Davon, dass Behinderte wie alle anderen auch an der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben sollen. Gilt das auch für die Angehörigen?

Wenn wir aus unserem Leben erzählen, hören wir oft „das kann doch garnicht sein“ oder „das wusste ich ja garnicht“. Meistens dann, wenn Inklusion nicht funktioniert, dann, wenn wir vor Aufgaben gestellt werden, die mit gesunden Kindern völlig problemlos sind. Davon möchte ich erzählen.